Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit in Einbeck: Handlungsbedarf und Perspektiven

Gemäß § 56 NKomVG hat Ratherr Dr. Alexander Kroll der Einbecker Stadtverwaltung am 31.01.2025 einige Fragen zum Thema Obdachlosen- Wohnungslosenhilfe gestellt, die wir hier veröffentlichen möchten.

2025-01-31_Obdachlosen- Wohnungslosenhilfe Stadt Einbeck, Anschreiben

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Dr. Michalek,
in meiner Funktion als niedergelassener Arzt in Einbeck und Mitglied des Stadtrates wende ich mich heute an Sie, um vertiefende Informationen über die Situation der Obdach- und Wohnungslosigkeit in unserer Stadt zu erhalten. In meiner Praxisgemeinschaft betreue ich neben anderen Patientinnen und Patienten auch Menschen mit Suchtproblematiken und führe in diesem Kontext Substitutionstherapien durch. Dabei ergeben sich regelmäßig Gespräche über die Lebensumstände meiner Patientinnen und Patienten, die häufig auch von (drohender) Wohnungslosigkeit betro[en sind. Ich beschäftige mich daher schon seit geraumer Zeit intensiv mit den Rahmenbedingungen und Hilfestrukturen für Menschen in prekären Wohnverhältnissen.

Beraten lassen habe ich mich bei meinem sozialwissenschaftlichen Partner, Professor Dr. Peter-Ulrich Wendt, der im Fachbereich Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien der Hochschule Magdeburg/Stendal lehrt. Ich möchte nicht nur den aktuellen Kenntnisstand der Stadtverwaltung abfragen, sondern auch den Austausch zwischen Politik, Verwaltung und den in Einbeck bestehenden Trägern sowie Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe intensivieren. Mir ist es wichtig, ein möglichst transparentes und di[erenziertes Bild der lokalen Lage zu erhalten, um im Stadtrat und in enger Abstimmung mit Ihnen und den zuständigen Fachämtern die bedarfsgerechte Weiterentwicklung von Maßnahmen und Hilfen anzustoßen. Einleitung und Begründung des Anliegens Themen wie Wohnungsnot, Wohnungslosigkeit und drohende Obdachlosigkeit haben sich in den vergangenen Jahren bundesweit verschärft. Immer mehr Menschen geraten – oft unbemerkt – in unsichere Wohnverhältnisse. Die Gründe dafür sind vielfältig: steigende Mieten, private Schicksalsschläge oder komplexe Problemlagen wie Sucht, Überschuldung, familiäre Krisen oder psychische Erkrankungen. Verschiedene Studien, u. a. von Wohlfahrtsverbänden, der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) sowie von Wissenschaftlern wie Professor Dr. Wendt, verdeutlichen die wachsende Zahl bedürftiger Personen in diesem Bereich.

Gerade in meiner ärztlichen Tätigkeit begegne ich immer wieder Menschen, deren gesundheitliche und soziale Situation eng mit ihren Wohnverhältnissen verbunden ist. Insbesondere für Personen mit Suchtmittelabhängigkeiten können fehlender Wohnraum und mangelnde Struktur im Alltag zu einer weiteren Destabilisierung führen. Umso wichtiger ist es, integrierte Hilfekonzepte zu entwickeln, die medizinische, psychosoziale und wohnungspolitische Aspekte zusammenführen. Zu den zunehmend diskutierten Begriffen zählen:

  • Wohnungslosigkeit: Menschen ohne mietvertraglich abgesicherten Wohnraum oftmals (noch) untergebracht in kommunalen Notunterkünften oder anderen
    Notlösungen;
  • Obdachlosigkeit: Menschen, die keinen festen Schlafplatz haben und unter freiem Himmel („Platte machen“) übernachten;
  • Wohnungsarmut: Menschen, die zwar formell Wohnraum haben, aber von ihrem verfügbaren Einkommen nach Abzug der Wohnkosten faktisch so eingeschränkt
    sind, dass sie unter die gängige Einkommensarmutsgrenze fallen;
  • Drohende Wohnungslosigkeit: Personen, die kurz vor dem Verlust ihrer Wohnung stehen (z. B. Kündigung, Räumungsklage, eskalierende Konflikte in der derzeitigen
    Wohnsituation).

Um in Einbeck zielgerichtete Entscheidungen tre[en zu können, ist ein genaues Bild über Umfang und Art der Hilfebedarfe in diesem Bereich unerlässlich. Ein möglichst genauer Datenabgleich zwischen den sozialen Trägern, dem Landkreis Northeim sowie anderen Institutionen (z. B. Suchthilfeträgern, Suchtberatungsstellen, Gesundheitsdiensten) ist erforderlich, um Doppelstrukturen zu vermeiden und passgenaue, vernetzte Angebote zu scha[en. Gerade für Menschen, die Wohnungslosigkeit und eine Suchterkrankung kombinieren, ist die Hürde, Hilfe anzunehmen, oft besonders hoch. Hier kann nur durch eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Akteure gewährleistet werden, dass Betro[ene adäquat erreicht und unterstützt werden.

Professor Dr. Wendt hat mir diverse Materialien (Thesenpapiere, Literaturauszüge, Handlungsempfehlungen) zur Verfügung gestellt, die belegen, wie bedeutsam integrierte Gesamtkonzepte, niederschwellige Angebote und eng vernetzte Hilfesysteme sind, z.B. Housing-First-Ansätze. Speziell geschlechtersensible Zugänge (z. B. für Frauen in Notlagen), die Prävention bei Jugendlichen (z.B. mobile, aufsuchende Ansätze) sowie eine geeignete Betreuung für hochgradig suchterkrankte Personen sind dabei wichtige Aspekte.

Konkrete Fragen an die Stadt Einbeck
Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie um eine Stellungnahme zu folgenden Fragen:

1. Zahl der akut von Wohnungslosigkeit bedrohten Personen
– Wie viele Personen (Einzelpersonen bzw. Haushalte) waren nach Kenntnis der Stadt Einbeck Ende 2024 akut von Wohnungslosigkeit bedroht, also ohne eigenen Wohnraum und vorübergehend bei Angehörigen, Freunden oder Bekannten untergekommen, oder nur befristet geduldet?
2. Einschätzung zur Wohnungsarmut in Einbeck
– Wie viele Personen (Haushalte) könnten nach Einschätzung der Stadt Einbeck von Wohnungsarmut betro[en sein, d. h. ihr Einkommen liegt nach Abzug sämtlicher Wohnkosten (Miete, Strom, Heizung) unter der 60 %-Schwelle des Medianeinkommens?
3. Anzahl der tatsächlich obdachlosen Personen
– Wie viele Personen lebten Ende 2024 in Einbeck (nach Kenntnis der Stadt) vollständig ohne festen Wohnsitz unter freiem Himmel („Platte machen“), also nicht in einer ordnungsrechtlich bestimmten Unterkunft?
4. Inanspruchnahme kommunaler Hilfen
– Wie viele Personen haben im Jahr 2024 konkret kommunale Hilfen (finanzielle, Sachleistungen oder Beratung) im Handlungsfeld Obdach-/Wohnungslosigkeit in Anspruch genommen?
– Können Sie bitte Auskunft über Art, Umfang und Finanzierung dieser Hilfen geben?
5. Überschneidungen mit dem Handlungsfeld Sucht
– Wie viele der von Obdach- oder Wohnungslosigkeit betro[enen Personen sind nach Kenntnis der Stadt gleichzeitig im Bereich Suchtmittelgebrauch unterstützungsbedürftig?
6. Vorhandene Strukturen
– Welche Einrichtungen und Angebote (städtische und/oder in freier Trägerschaft) stehen aktuell Menschen ohne festen Wohnsitz oder in Gefahr des Wohnungsverlustes zur Verfügung?
– Gibt es spezielle Unterstützungsangebote für Frauen, Jugendliche/junge Erwachsene oder Menschen mit Suchtproblematik bzw. psychischen Erkrankungen?
7. Konzeptionelle Vorstellungen der Stadt Einbeck
– Über welche konzeptionellen Ansätze und Planungen verfügt die Stadt Einbeck, um die Hilfen im Bereich Obdach- und Wohnungslosigkeit weiterzuentwickeln?
– Bestehen bereits Zielvorstellungen, zeitliche Planungen oder vorhandene Leitlinien/Konzepte, insbesondere in Bezug auf Prävention und Netzwerkarbeit?
8. Kooperation mit dem Landkreis Northeim
– Wie gestaltet sich aktuell die Zusammenarbeit zwischen der Stadt Einbeck und dem Landkreis Northeim im Themenfeld Obdach-/Wohnungslosigkeit?
– Sind gemeinsame Projekte, Arbeitskreise oder Steuerungsgruppen etabliert?
9. Netzwerke und Verbundstrukturen
– Gibt es bestehende Netzwerke, in denen Stadtverwaltung, freie Träger, Wohlfahrtsverbände, soziale Dienste oder z. B. das Gesundheitsamt bzw. Suchtberatungsstellen kooperieren?
– Wie ist diese Vernetzung organisiert (Arbeitsgemeinschaften, Fachkonferenzen, Runde Tische)? Wo sehen Sie Stärken bzw. eventuelle Lücken?
10. Einbindung in (über)regionale Fachstrukturen
-Ist die Stadt Einbeck (bzw. sind lokale Träger) Mitglied in regionalen, landesweiten oder überregionalen Fachverbänden der Wohnungslosenhilfe (z. B. BAG Wohnungslosenhilfe) tätig?
– Inwieweit werden überregionale Konzepte, Erfahrungen und Projekte dort rezipiert und für die lokale Praxis nutzbar gemacht?

Weiteres Vorgehen

Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir zu den oben angeführten Punkten eine möglichst umfassende Antwort zukommen lassen könnten – gerne in Form eines schriftlichen Berichts oder einer tabellarischen Übersicht. Eine strukturierte Aufteilung Ihrer Antworten nach den einzelnen Fragen (1 bis 10) wäre dabei sehr hilfreich. Falls Ihnen konkrete Statistiken, systematische Erhebungen oder Projektdaten vorliegen, wäre ich für eine detaillierte Darstellung äußerst dankbar.

Sobald mir Ihre Rückmeldung vorliegt, möchte ich in einem nächsten Schritt prüfen, welche Möglichkeiten bestehen, zusammen mit den sozialen Trägern, den Fachbereichen der Stadt, dem Landkreis sowie interessierten Mitgliedern des Stadtrates und weiteren Akteuren ein Konzept mit konkreten Handlungsempfehlungen für Einbeck zu erarbeiten. Abschließend möchte ich betonen, dass meine Anfrage keinen Vorgriff auf etwaige politische Entscheidungen oder Etatanpassungen darstellt. Vielmehr sehe ich sie als Gelegenheit, das bereits bestehende Engagement der Stadt Einbeck im sozialen

Bereich zu würdigen und auf dieser Grundlage eine solide, datenbasierte Planung zur Weiterentwicklung von Hilfen zu ermöglichen. Angesichts der großen gesellschaftlichen Bedeutung des Themas Obdach- und Wohnungslosigkeit werde ich dieses Anliegen im Stadtrat weiter intensiv begleiten und unterstützen.

Ich danke Ihnen bereits jetzt sehr herzlich für Ihre Bemühungen und die Zeit, die Sie in die Beantwortung meiner Fragen investieren. Für Rückfragen oder weiterführende Informationen stehe ich Ihnen selbstverständlich gerne zur Verfügung. Bitte lassen Sie mich wissen, ob Sie eine persönliche Aussprache wünschen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Andreas Kroll
Mitglied des Stadtrates der Stadt Einbeck
(Niedergelassener Arzt)

In Zusammenarbeit mit
Professor Dr. Peter-Ulrich Wendt
Hochschule Magdeburg/Stendal
FB Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien

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